Zerstörungslust – oder: Warum wollen so viele Menschen die Welt brennen sehen?

Shownotes

In den USA ist ein demokratisch gewählter Präsident daran, die Demokratie aus den Angeln zu heben. In Deutschland erhielt eine Partei, die als «gesichert rechtsextremistisch» eingestuft wird, bei den letzten Wahlen die meisten Zweitstimmen. Wie kommt es, dass immer mehr Menschen eine Politik unterstützen, die auf die Zerstörung zentraler Werte der Demokratie zielt?

Eine mögliche Antwort lautet: Weil die liberalen Gesellschaften ihr eigenes Versprechen – Aufstieg, Teilhabe, Emanzipation – nicht mehr einlösen. Ein wachsender Teil der Bevölkerung fühlt sich politisch ohnmächtig, überhört, abgehängt. Diese Diagnose stammt von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey, Soziolog:innen an der Universität Basel und Autor:innen des Buches «Zerstörungslust. Elemente des demokratischen Faschismus».

Was hat es mit der Zerstörungslust auf sich? Darüber sprechen Dozent Peter Streckeisen und Wissenschaftsredaktorin Regula Freuler in dieser Episode.

Dabei werden folgende Bücher, Namen und Begriffe erwähnt:

  • Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey: Zerstörungslust. Elemente des demokratischen Faschismus. Suhrkamp 2025.
  • Horkheimer/Adorno: Die Dialektik der Aufklärung. New York Institute of Social Research 1944. Erhältlich im S. Fischer Verlag, Zusammenfassung z.B. bei getabstract.
  • Pierre Bourdieus soziologische Studie über den Neoliberalismus in Frankreich «Das Elend der Welt», erschienen 1993 im Original «La misère du monde», ist als Interviewband konzipiert. Rund 30 Wissenschaftler:innen haben daran mitgearbeitet. Auf Deutsch gibt es eine gekürzte Studienausgabe bei UTB.
  • Arlie Russel Hochschild ist emeritierte Professorin für Soziologie an der University of California in Berkeley. Sie schrieb unter anderem das Buch «Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten», auf Deutsch 2017 im Campus-Verlag erschienen.
  • Workfare: ein arbeitsmarktpolitisches Konzept, das in den 1990er-Jahren in den USA entstand und bei dem staatliche Sozialleistungen an eine Arbeitsverpflichtung gekoppelt sind.

Transkript anzeigen

00:00:00: Regula Freuler: Zerstörungslust, also dass du etwas kaputt machst, aus Langweile, Frust oder Wut – kennst du das, Peter?

00:00:07: Peter Streckeisen: Ich erinnere mich tatsächlich an eine Situation, in der ich mich so aufgeregt habe, dass ich einen Finken an die Decke geschmissen habe und es ein kleines Loch gegeben hat. Regula Freuler: Was hast du denn für Finken?

00:00:29: Jingle: Sozial. Ein Podcast der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften. Zum Nachdenken und Handeln in sozialer Arbeit.

00:00:41: Regula Freuler: Willkommen bei einer neuen Folge unseres Podcasts «sozial». Ich bin Regula Freuler, ich bin zuständig für Wissenschaftskommunikation am Departement Soziale Arbeit der ZHAW. Und mir gegenüber sitzt Peter Streckeisen. Herzlich willkommen, Peter.

00:00:55: Peter Streckeisen: Hoi Regula, schön, dass wir uns hier treffen.

00:00:58: Regula Freuler: Warum habe ich Peter gefragt, ob er «Zerstörungslust» als Gefühl kennt? Weil wir nämlich heute über ein Buch sprechen, das diesen Titel trägt. Warum wir heute über dieses Buch sprechen, das sage ich dann später. Bevor ich jetzt eine kurze Zusammenfassung von diesem doch ziemlich langen Buch gebe, möchte ich dich bitten, Peter, sag doch etwas über die beiden, die dieses Buch geschrieben haben.

00:01:25: Peter Streckeisen: Also, das Buch wurde geschrieben von Caroline Amlinger und Oliver Nachtwey. Und die beiden sind beide an der Uni Basel. Caroline Amlinger ist Literatursoziologin und sie leitet dort ein Forschungsprojekt über Belesenheit, das mit sozialen Grenzen zu tun hat. Also Bücher lesen ist nichts Selbstverständliches.

00:01:45: Das ist so ihr Gebiet. Und Oliver Nachtwey, er ist Professor für Soziologie an der Uni Basel, und unter anderem ist er bekannt worden für ein Buch, das ist schon fast zehn Jahre her, über die Abstiegsgesellschaft, das er geschrieben hat. Und das Buch, über das wir heute sprechen, ist schon ihr zweites gemeinsames Buch. Vor drei Jahren gaben sie ein Buch heraus, das heisst «Gekränkte Freiheit – Aspekte des libertären Autoritarismus». Beide Bücher bei Suhrkamp erschienen.

00:02:14: Regula Freuler: Darüber werden wir nachher wahrscheinlich auch noch sprechen, weil das, worüber wir heute sprechen, «Zerstörungslust», ist vielleicht auch der Nachfolger von «Gekränkte Freiheit». Zumindest gehören die beiden Bücher zusammen?

00:02:27: Peter Streckeisen: Auf jeden Fall. Die bauen aufeinander auf.

00:02:30: Regula Freuler: Genau. Nun, um was geht es im Buch «Zerstörungslust»? Der Untertitel lautet «Elemente des demokratischen Faschismus». Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey beantworten also die Frage, die in der zweiten Amtszeit von Donald Trump schon sehr oft gestellt wurde. Nämlich: Erleben wir gerade den Wiederaufstieg des Faschismus in einer demokratischen Gesellschaft? Die Autor:innen argumentieren, dass ein – und jetzt mache ich mit den Fingern diese Anführungsstriche in die Luft – «destruktiver Affekt» zum zentralen Motor unserer Gegenwartsgesellschaft geworden ist. Die beiden zeigen, vor allem an Beispielen aus den USA unter Trump und in Deutschland mit einer immer stärker werdenden AfD, wie die Lust an der Zerstörung von immer mehr Menschen empfunden und praktiziert wird, und zwar politisch, kulturell und sozial. Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey führen viele bekannte Beispiele auf in diesem Buch. Eines, das bestimmt alle kennen, war der Sturm aufs Capitol am 6. Januar 2021. Die meisten erinnern sich an diesen Mann mit einer Bison-Verkleidung, also den «QAnon-Schaman», wie man ihm dann auch sagte. Im Buch geht es aber nicht um vereinzelte Akte von Gewalt oder Vandalismus, was ja auch ein Synonym ist für Zerstörungslust, sondern um eine tiefere gesellschaftliche Logik. Also ich habe mir drei Punkte aufgeschrieben, als ich diese Zusammenfassung gemacht habe. Das eine ist, Frustration und Ohnmacht in Zeiten von Krisen und zwar ökonomische, ökologische Krisen, politische Krisen. Der zweite Punkt ist: Rechte Bewegungen instrumentalisieren die Zerstörungslust. Ich glaube, Donald Trump ist ein Paradebeispiel für das. Und der dritte Punkt, den ich mir aufgeschrieben habe, ist, Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey zeichnen nach, wie dieser Affekt, also wie dieser destruktive Affekt in historischen Krisenphasen immer wieder auftaucht, aber durch digitale Kommunikationsräume heute verstärkt wird. Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey betonen in ihrem Buch, dass die Haltung nicht nur destruktiv ist im engeren Sinne, sondern auch ein paradoxes Gefühl hat, und zwar von der Ermächtigung.

00:04:49: Das heisst, jemand, der etwas zerstört, kann sich auch selbst ermächtigen. Und das klingt jetzt ein bisschen absurd, vielleicht für dich und mich, gut du hast das mit dem Schuh an der Decke gemacht, aber für mich zumindest, nämlich: Wer etwas zerstört, der kann sich stark fühlen. Das Autor:innen-Duo hat im Herbst 2024 in Deutschland ein umfangreiches Forschungsprojekt durchgeführt. Sie haben rund zweieinhalbtausend Personen befragt mit einem Online-Fragenbogen. Und dann, damit sie noch tiefer reingehen, haben sie noch 41 ausführliche Interviews geführt. Das Ziel des Forschungsprojekts war, dass sie verschiedene Typen der Destruktivität ausarbeiten konnten, weil das nicht einfach eine grosse Masse von destruktiven Menschen ist. Das heisst, ihr Ziel war es, herauszufinden, wie denken, fühlen und handeln destruktive Menschen. Was hat sie dazu gebracht, diese Form der Radikalität anzunehmen? Und warum haben so viele Menschen kein Problem damit, für faschistische Positionen einzustehen? Eine Erklärung von ihnen lautet, im Kern richtet sich die Revolte, also von diesen Menschen, die destruktiv handeln, gegen die liberalen Gesellschaften, die ihre Versprechen auf Aufstieg und Emanzipation nicht mehr einlösen. In diesem Sinne zerstören diese Menschen lieber die Welt, wie sie so jetzt ist, als zu riskieren, mit ihr unterzugehen. Wie hast du die Grundthesen dieses Buchs verstanden?

00:06:20: Peter Streckeisen: Ich finde diese These wirklich interessant. Man kann auch sagen, sie greift zurück auf eine ganze Tradition von kritischer Gesellschaftsanalyse, die aus der kritischen Theorie herauskommt. Wenn wir zurückdenken – das ist jetzt ein grösserer Sprung – bei Adorno und Horkheimer, in «Dialektik der Aufklärung»…

00:06:39: Regula Freuler: …gibst du noch eine Jahrzahl für diejenigen, die das nicht gelesen haben?

00:06:42: Peter Streckeisen: Es ist in der Zeit des Faschismus damals entstanden und dann in den 1940er 1950er publiziert und auch verbreitet worden. Und dort ist auch so dieses Thema von der Destruktivität schon angedeutet gewesen, so die Idee, dass die Gesellschaft einerseits den Faschismus, aber eben auch in den westlichen Gesellschaften, die Gesellschaften, die den Fortschritt preisen und den steigenden Wohlstand und sich in Widersprüche verstricken und auch destruktive Züge haben. Und das haben sie aufgegriffen und aktualisiert, jetzt bezogen auf die heutige Situation und ich finde das sehr anregend, unter anderem, weil sie damit auch nicht probieren, alles nur auf der Ebene der politischen Argumentation zu verstehen und zu analysieren. Sie verweisen darauf, dass es um Affektstrukturen geht, es geht um Gefühle, wahrscheinlich geht es auch um Körper und Körperzustände, wie Menschen sich fühlen, wie sie auf etwas reagieren, von dem sie finden, dass sie sich angegriffen fühlen oder sie fühlen sich ohnmächtig. Und vor diesem Hintergrund finde ich es überhaupt nicht paradox zu sagen, dass die Idee, ich kann etwas kaputt machen, das kann eine Art und Weise sein, auch wieder Handlungsmacht zu erlangen, weil dann bewirke ich etwas. Ich glaube, dass sich die Absicht, etwas zu zerstören, die Zerstörungslust, man kann das sagen, es bezieht sich auf eine liberale Gesellschaftsordnung, aber wahrscheinlich richtet sich das oft auf spezifischere Gruppen oder Einrichtungen. Bevölkerungsgruppen, die als Bedrohung wahrgenommen werden, von denen jemand sich angegriffen fühlt. Oder Einrichtungen, Gesellschaftseinrichtungen, staatliche Verwaltungen, Schulen oder anderes, wo man Demütigungen erfahren hat. Wo man sich bedrängt fühlt oder abgewertet fühlt. Ich glaube, es ist oft spezifischer. Weil in dieser These ist die Idee, die Gesellschaft zu zerstören, bevor sie uns zermalmt, das ist vielleicht eine sehr makro-gesellschaftliche These.

00:08:41: Regula Freuler: Ich würde gerne nochmals auf den Aspekt des gesellschaftlich prägenden Affekts kommen, dass diese Zerstörungslust eben etwas wie ein gesellschaftliches Gefühl ist, also nicht einfach nur, ich sage jetzt mal, Frustration oder Aggression als individuelle destruktive Handlung. Ich denke jetzt da zum Beispiel an die sehr bekannte Berichterstattung zu Jugendunruhen oder Vandalismus, wo das Wort «Frust» eigentlich so ein bisschen zum Standardvokabular gehört. Was unterscheidet jetzt die Zerstörungslust, wie sie das beschreiben, von dieser anderen, von dieser Unruhe zum Beispiel, von Jugendunruhe zum Beispiel?

00:09:17: Peter Streckeisen: Also man kann sich fragen, was unterscheidet die beiden. Man kann sich aber auch fragen, welche Gemeinsamkeiten sie haben. Und ich denke, es ist ja eine soziologische Analyse. Und darum geht es vielleicht jetzt nicht so darum zu diagnostizieren, irgendwie herauszufinden, wer ist ein destruktiver Typus und wer nicht, sondern das sind eigentlich gesellschaftliche Affektstrukturen. Und es gibt auch Dynamiken vom kollektiven Handeln. Also was jemand macht in so einer Situation, hat auch damit zu tun, was andere machen. Und das muss man auch mit in Rechnung stellen. Ein gemeinsamer Nenner von dem könnte sein, eben die Ohnmacht oder die Wut, die sich gegen bestimmte Einrichtungen richtet. Oder dass es scheinbar nihilistisch ist oder wahrgenommen wird. Das wird so wahrgenommen in einer breiten Öffentlichkeit, sowohl Jugendunruhe in der französischen Banlieue wird dargestellt als etwas Sprachloses, Wortloses Sinnloses, einfach eine Zerstörungswut. Und ähnliche Beschreibungen haben wir auch bei diesen Phänomenen von radikalen Rechten oder neuen Formen von faschistischem Engagement. Und das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass sich um Gruppen von Leuten handelt, die entweder das Gefühl haben, sie finden kein Gehör, sie werden sowieso nicht ernst genommen. Warum soll man argumentieren, wenn man sowieso nicht ernst genommen wird? Oder Personen, weil unter Umständen teilweise sind es auch Leute in diesen Studien von Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger zum Teil auch Leute, die akademische Ausbildungen haben, aber in ihrem Bereich sich nicht verstanden fühlen oder so Häretiker sind oder Meinungen vertreten, die minoritär sind, die in einer Minderheit sind. Und das sind alles Faktoren, die sie dazu führen können, dass sie Aktionsformen wählen, die ganz bewusst mit etablierten Regeln des politischen Engagements brechen. Wie sie damit rechnen, dass sie nach diesen Regeln sowieso nicht gehört werden und nicht ernst genommen werden. Warum sollen sie sich dann an diese Regeln halten?

00:11:06: Regula Freuler: Peter, wenn wir jetzt so über das reden und du das alles erklärst, dann frage ich mich, rechtfertigen wir jetzt dieses Verhalten, das wir jetzt einfach so analysieren, das destruktive Verhalten?

00:11:19: Peter Streckeisen: Ja, das ist eine ganz wichtige Frage. Und das ist auch eine Gratwanderung für die Analyse solcher Phänomene. Und ich würde mich jetzt hier in der Tradition der verstehenden Soziologie sehen. Das ist eine lange Geschichte, schon bei Max Weber oder Bourdieu und so, die gesagt haben, das ist die Aufgabe der Soziologie, zu verstehen, warum Menschen wie handeln. Eine ganz zentrale Aufgabe. Und das heisst, man muss sich probieren in andere Menschen zu versetzen mit Methoden, welche die Soziologie hat. Und das heisst natürlich nicht, dass wir nachher rechtfertigen, was die Person macht. Und gleichzeitig würde ich behaupten, ist es nicht nur ein analytischer Zugang, sondern es hat auch bei aller Schwierigkeit etwas Empathisches. Weil wenn wir das machen, gehen wir immer auch davon aus, dass die Menschen, um die es hier geht, vielleicht – unter anderen Bedingungen –auch anders handeln würden. Oder wenn man auf eine bestimmte Art und Weise auf sie zugeht oder sie vielleicht mehr ernst nimmt, würden sie vielleicht auch anders handeln. Vielleicht mehr so wie wir es uns erhoffen oder wünschen würden. Und das heisst auch, und ich glaube das ist eigentlich interessant in diesem Buch, sie haben Befragungen gemacht, standardisierte Befragungen und Interviews und sie sagen, die meisten von diesen Leuten nehmen nicht direkt faschistische Positionen ein. Also die meisten von diesen Leuten haben nicht einen destruktiven Charakter, vielleicht gibt es gewisse Züge in diese Richtung und ich finde das noch wichtig, das heisst ja auch, dass es da Möglichkeiten gibt, Sachen zu verändern, zu beeinflussen, dass es sozusagen, es wäre falsch zu sagen, die Leute sind einfach verloren, mit denen kann man nicht mehr reden. Und ich finde, es gibt viele gute Beispiele, in den USA, zum Beispiel auch die Studien von Arlie Hochschild, die in dieser Perspektive von einer verstehenden Soziologie gewesen sind. Also wir sind kritisch, aber nicht nur im Sinne von, dass wir Leute kritisieren, die Sachen machen, die wir finden, das sollte man nicht machen, das ist destruktiv. Es ist eine Gesellschaftskritik und es ist ein Versuch zu verstehen, immer auch in der Hoffnung, dass die Leute, die so Sachen machen, die wir ganz schlimm finden oder nicht gut, sich vielleicht auch ändern oder in Zukunft sich anders verhalten werden, wenn man ihnen Möglichkeiten dazu gibt oder wenn man ihnen Einladungen dazu gibt oder wenn man sie ernst nimmt, wenn man ihnen zuhört.

00:13:31: Regula Freuler: Ist das jetzt ein destruktiver Affekt, wenn ich dir erwidere: Empathie ist ein Luxusgut, das sich nicht alle leisten können?

00:13:40: Peter Streckeisen: Ich glaube, dass es keine Menschen gibt, die in ihrem Leben keine Empathie erfahren oder Empathie ausüben. Das könnte eben genau so ein Klischee sein, dass man auf Leute schaut, die jetzt eben vielleicht destruktive Sachen machen und anfangen, sie als kleine Monster oder Maschinen oder Roboter anzuschauen, als ferngesteuerte Objekte irgendwo manipuliert werden und so. Und ich glaube, das wäre, wenn wir das machen, ist es eine Form von Entmenschlichung, natürlich. Das sollten wir nicht machen.

00:14:08: Regula Freuler: Damit das nicht ein exklusiver Club ist von denen, die Soziologie-Bücher gelesen haben: Sag doch kurz, wer war Max Weber und wer war Bourdieu?

00:14:18: Peter Streckeisen: Max Weber war einer der ersten Soziologen im deutschsprachigen Raum. Er wurde international viel rezipiert. Der Begriff der «verstehenden Soziologie» ist von ihm. Er hat um die Jahrhundertwende gearbeitet. Und Pierre Bourdieu ist einer der bekanntesten Soziologen im 20. Jahrhundert, der die Transformationen der westlichen Gesellschaft in den 1960er, 1970er bis 2000er Jahren untersucht hat. Und eben zum Beispiel auch in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus und der Globalisierung hat er auch einen Dialog gesucht mit sozialen Bewegungen, Gewerkschaften mit Leuten aus der Bevölkerung, denen sonst niemand zuhört. Es gibt das Buch «Das Elend der Welt» mit dem Untertitel «La France parle». Also da kommen Leute zu Wort, die sonst nie zu Wort kommen. Und von dem her, genau in dieser Art von Tradition oder von soziologischer Untersuchung kann man sich situieren, um zu versuchen zu verstehen, was läuft jetzt ab und wo gibt es auch Möglichkeiten für Alternative und Widerstand.

00:15:16: Regula Freuler: Was ich mich gefragt habe, ist: Wenn Zerstörung ein Gefühl oder eine Form der Selbstermächtigung ist, also wenn ich etwas nicht bekomme, dann mache ich es kaputt. Oder wenn man mir nicht zuhört, dann kann ich sowieso machen, was ich will. Gibt es dort eine Vision drin? Für mich ist das so visionslos. Was ist dann die Ermächtigung? Zu was ermächtigt man sich dann, wenn nichts dahintersteht?

00:15:41: Peter Streckeisen: Ich glaube, man muss ein wenig unterscheiden auf der Ebene der Affektstruktur, die auch von den Körperzuständen besteht. Kann das etwas Befreiendes haben? Ich bewege etwas, ich zeige, ich bin da. Es gibt mich, ich mache etwas und so. Und die Vision wäre dann mehr wieder auf der Ebene von, da geht es wieder mehr in Richtung von einer Strategie, von einem Konzept, von einem Argument. Und das schreiben sie ja auch, Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey, es wäre… das Buch heisst zwar «Zerstörungslust», aber sie sagen sehr deutlich, dass das auch etwas ist… Das ist ein Projekt hier, das sind Ideen hier, es geht nicht nur darum, alles kaputt zu machen, sondern es ist eine Vorstellung, den Staat zu verändern, die Gesellschaft zu verändern, Beziehungen zwischen den Menschen zu verändern, die gesellschaftliche Werteordnung zu beeinflussen und zu ändern. Es ist nicht nur eine Zerstörungswut oder Zerstörungslust, das ist auch wichtiges Element. Aber mit Foucault könnte man sagen, es ist auch etwas Produktives. Es soll auch etwas erreicht werden, es soll etwas verändert werden, etwas entwickelt werden. Und das ist ein wichtiger Teil davon, den wir in das Auge fassen müssen. Auch wenn uns, was erreicht werden soll, vielleicht überhaupt nicht gefällt. Aber es wäre ein Fehler, das nicht im Blick zu nehmen.

00:16:51: Regula Freuler: Jetzt machen wir noch schnell den Lexikon-Einspieler. Foucault war wer?

00:16:57: Peter Streckeisen: Foucault, ein französischer Philosoph, Sozialwissenschaftler, Michel Foucault, genau. Er hat viel über Macht und Wissen untersucht. Zum Beispiel auch, wie Wahrheit entstehen. Er hat einen Begriff wie Wahrheitsproduktion ins Feld geführt und eben heute wird häufig gesagt, wir seien im postfaktische Zeitalter, mit Trump und so weiter. Aber die Analysen von Michel Foucault zeigen ja auch, dass das, was man früher als Wahrheit, z.B. als wissenschaftliche Wahrheit angeschaut hat, auch kritisch hinterfragt und reflektiert wird. Also Wahrheit ist immer produziert. Und die Regeln, nach denen ein Wahrheit hergestellt wird und geglaubt wird, die ändern sich halt.

00:17:38: Regula Freuler: Gut, danke. Dann beenden wir diesen Einspieler. Du hast vorhin gesagt, Amlinger und Nachtwey argumentieren stark psychologisch. Sie sagen, der Status «Angst» sei ein Verlustteil eines Teils der Mittelschicht. Da können wir vielleicht noch etwas dazu sagen, wer gehört überhaupt zu dieser Gruppe von Leuten? Das ist ein Teil der Mittelschicht – und ich zitiere es: «feine Risse in der personalen Autonomie» – zum grossen Teil dafür verantwortlich sind, also für das Gefühl. Sie sagen sogar an einer Stelle, wo sie eine Person zitieren, die sie befragt haben, also die Interviews, die sie in diesem Forschungsprojekt geführt haben, zitieren immer wieder. Es gibt so kleine Kurzporträts von diesen Leuten. Sie sagen dann nach einem Satz, das sei eine gefühlte Wahrheit oder Gefühl auch eine Form von Wahrheit. Ich habe das so ironisch verstanden. Wie siehst du das oder wie ging dir?

00:18:35: Peter Streckeisen: Eine gefühlte Wahrheit, eben wie ich gesagt habe, also was wahr ist oder was als wahr angeschaut wird, das verändert sich. Und zum Beispiel, also das Gefühl, das man hat, ob sich etwas als richtig oder falsch anfühlt, das kann man so wegwischen und sagen, ja das ist ja nur dein Gefühl, aber die Frage ist, gibt es jemanden, der auf einem Standpunkt steht, der letztgültig beurteilen kann, wahr ist und was nicht. Vorhin haben wir den Einschub gemacht mit Michel Foucault. Ist die Wahrheitsfrage eine Frage der Macht? Es ist noch nicht so lange her, als unsere Gesellschaft der Meinung war, dass Menschen je nach Hautfarbe minderwertig sind. Oder dass Frauen weniger intelligent sind als Männer. Und das war damals die wissenschaftliche Wahrheit. Und das ist nicht das Plädoyer dafür, dass anything goes. Dass wir uns nicht mehr auseinandersetzen sollten über Kriterien von Wahrheit. Natürlich müssen wir das. Aber eine Position, die irgendwie so naiv an eine absolute Wahrheit... beruft und sagt, das, was Trump sagt, ist falsch und wir wissen, was wahr ist. Ich glaube, das ist eine grosse Falle. Diese Art von Position ist eine Autobahn für Trump und andere, die genau verstanden haben, wie man die Wahrheitsspiele heute spielen kann. Und dabei kann man appellieren an Frustrationen an Affekte an Erfahrungen von Ausschluss. Politik ist ein System, das ausschliesst. Die Leute haben Demütigungen erfahren im Bildungssystem zum Beispiel und so weiter und so fort und das sind alles reale Erfahrungen, das sind auch Wahrheiten in dem Sinne für die betroffenen Menschen. Und wenn man diese von oben abkanzelt, dann macht man genau das, was Trump und die anderen möchten.

00:20:14: Regula Freuler: Das, was du jetzt vorhin gesagt hast, das fassen Sie mit dem Begriff «Dienstleistungsmittelklasse» zusammen. Das habe ich ein super Wort, weil das wahnsinnig viel sagt. Sie sagen, die Dienstleistungsmittelklasse ist ein Symptom für den Strukturwandel, der empfunden wird. Und zwar, dass durch soziale Differenzierung und Zunahme von Expertenwissen hat sich eine neue Klasse von Fachleuten etabliert, die den Bürger:innen sagen, was die beste Lebensform ist oder die richtige Form von Lebensführung. Das ist das, wo die Leute so wütend werden. Wo diese Abstufung als Abstufung empfunden wird. Wenn plötzlich der Kanton oder das Bundesamt für Gesundheit sagt: Diese Gemüse musst du jetzt essen, und zwar so oft. Und wenn du das nicht machst, kann es dann sein, dass vielleicht die Versicherung teurer wird, gut, das haben sie nicht gesagt. Aber das geht natürlich dann in den Köpfen der Leute ab.

00:21:09: Peter Streckeisen: Ja, ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt über die Veränderungen der Klassenstrukturen in unserer Gesellschaft und über die Veränderungen auch davon, wie ein Staat und Verwaltung funktionieren, mit der Experten-, Expertinnen-Kultur. Ich glaube, da gibt es ganz viele Frustrationen, die generiert werden durch dieses System. Einerseits ist es ein sehr verschärfter Bildungswettbewerb. Auch in der Schweiz, wir sind in einer Gesellschaft heute, wo die Hälfte der Bevölkerung einen Tertiärabschluss hat, und es wird zunehmen. Das heisst, man hat eine Zunahme von Personen, die sich in diesem Bildungswettbewerb abgehängt oder verdrängt fühlen und auch Mühe haben, z.B. eine Arbeit zu finden, wo sie vielleicht finden, für das braucht es doch gar nicht den Bildungstitel, aber der Wettbewerb ist da. und so entstehen Frustrationen, weil sie zum Teil Ausbildungen gemacht haben, die sie vorbereitet haben auf etwas mit der Idee, eine sehr qualifizierte Tätigkeit, Autonomie, Handlungsspielräume die nachher eingeschränkt wird durch die Rahmenbedingungen, unter denen sie arbeiten, oder es ist hoch reguliert oder bürokratisch durchorganisiert. Und ich denke, in beiden Fraktionen dieser Mittelklasse – die mit mehr Bildungstiteln und die mit weniger – sieht man, wie es strukturell… Das sind eben Elemente dem, was man in der Tradition der kritischen Theorie als Destruktivität anschauen könnte: Die Gesellschaft, die so fortschrittlich ist, so gebildet ist, so reguliert ist, so normiert ist, generiert so destruktive Auswirkungen, so Frustrationen, so Wettbewerbsorientierung an Leistung und Wettbewerb und so. Und das sind alles destruktive Elemente, die Gefühle erzeugen können, die jetzt genutzt werden in der Politik. Die Politik hat sich immer schon auf Gefühle bezogen. Die Gefühlslagen haben sich verändert und können entsprechend aufgerufen und mobilisiert werden.

00:22:55: Regula Freuler: Regulierung ist etwas Destruktives?

00:22:58: Peter Streckeisen: Regulierung kann sich destruktiv auswirken. Du hast es vorher angesprochen, sich gesund zu ernähren. Weltoffen sein, und, und und, traditionelle Geschlechterrollen hinter sich hin, das sind alles Sachen, die einerseits sind es Erwartungshaltungen und Normen, die diffundiert werden, viele Menschen fühlen sich angegriffen durch das, weil das nicht ihrer Lebenswelt entspricht oder ihrer Sozialisation entspricht. Und dann wird es auch normiert. Je nachdem gibt es Vorschriften, Vorgaben. Und dort ist sicher in diesem Buch ein wichtiger Bezugspunkt, ist die Corona-Pandemie. Und das war so ein Moment, wo sich die Regulierung und die Eingriffe auf das Alltagsleben wirklich zugespitzt haben. Auf eine Art und Weise, wo rückblickend sicher auch viele von denen, die das damals richtig gefunden haben, vielleicht heute kritisch anschauen würden wahrscheinlich.

00:23:47: Regula Freuler: Gerade auch in Deutschland, wo es viel schärfer war als bei uns.

00:23:51: Peter Streckeisen: Die Grundthematik ist dieselbe. Aber was ich sagen will: Die Normen und die Regulierungen, da steht immer irgendeine Art Expertenwissen da und sagt, was richtig ist. Aber auch unter Experten und Expertinnen gibt es verschiedene Meinungen. Es gibt gute Gründe, um das infrage zu stellen. Aber die meisten Leute haben keine Möglichkeit, keine Ressourcen, um das infrage zu stellen auf eine Art und Weise, bei der sie gehört werden und ernst genommen werden. Also fühlen sie sich dem ausgeliefert und bevormundet. Das ist sehr nachvollziehbar.

00:24:20: Regula Freuler: Im Buch, wenn ich es richtig im Kopf habe, geben Amlinger und Nachtwey eine relative kurze Replik darauf. Sie sagen: In einer komplexer werdenden Welt ist mehr Regulierung nötig. Ein Beispiel ist mit den Autos. Wenn es viel mehr Autos gibt, braucht es mehr Regeln, sonst gibt es mehr Unfälle.

00:24:38: Peter Streckeisen: Ja, und zu dieser These weiss ich jetzt gar nicht, ob ich so allgemein Stellung nehmen möchte, denn es gibt ja auch verschiedene Formen von Regulierung und verschiedene Regulierungsebenen. Aber der Punkt ist natürlich der, wenn sich die Frage stellt, wer hat ein Auto? Und die Leute, die ein Auto haben, und das Auto vielleicht sehr wichtig ist in dem, was sie haben, oder? Und andere, die kein Auto haben oder ein Auto haben und noch viele andere Sachen. Jedes Mal kann das dann doch immer auf tausende Art und Weise als ungerecht erfahren werden. Das ist auch nachvollziehbar. Man sagt den Leuten: Fahrt nicht Auto. Aber eigentlich, die Leute, die sich mit dem auseinandersetzen und forschen über Umwelt und so, wissen sehr genau, dass der Appell an die individuelle Verantwortung eigentlich problematisch ist. Aber er wird aber gemacht. Wer sich dagegen wehrt, gilt dann als nicht umweltbewusst. Aber eigentlich, auch in diesen politischen Zusammenhängen unter Forschern und Forscherinnen, ist ein Konsens, dass der Appell an die individuelle Verantwortung eigentlich viel zu kurz greift. Es wird aber trotzdem gemacht. Die Leute fühlen sich angegriffen und verteidigen sich auch zum Teil.

00:25:43: Regula Freuler: Ich würde jetzt mal noch ein bisschen persönlicher werden. Ich würde sagen, Aktionen oder Aktivitäten, welche die Soziale Arbeit macht, werden auch so empfunden. Ich denke jetzt an Community Development. Wir machen ein Strassenprojekt. Jetzt dürfen alle Autos… also niemand darf mehr sein Auto parkieren, weil vier Wochen lang müssen jetzt alle da draussen sitzen und ihre Bänke herausstellen und die Leute begegnen sich. Also sogar wir von der Sozialen Arbeit sind hier mitverantwortlich für den Ärger.

00:26:14: Peter Streckeisen: Die Soziale Arbeit hat ja häufig zu tun mit Lebensstil, Alltagskulturen und du redest jetzt von so Projekten in Stadt oder so, aber wenn jemand wirtschaftliche Sozialhilfe bezieht, dann greifen die Sozialarbeitenden ein, auch in Familiensituationen, auch in Lebensweisen Kinderbetreuung und anderes. Und auch in anderen Bereichen. Und es stellt sich immer die Frage, mit welcher Rechtfertigung machen sie das? Inwiefern haben sie das Recht, sich darauf zu berufen, was ein gelingendes Leben ist oder nicht? Also die Soziale Arbeit ist auf jeden Fall da drin. Und eine Schwierigkeit der Sozialen Arbeit ist ja gerade die, dass sie ihre Autonomie auch wahren muss z.B. gegenüber staatlichem Auftrag und staatlichen Regulierungen. Und das ist eine Gratwanderung. Und von dem her ist es sehr nachvollziehbar, weil du das vorhin erwähnt hast, in Frankreich, in Banlieues, die Soziale Arbeit ist zum Teil direkt Zielscheibe von dieser Wut der Jugendlichen, weil sie als Repräsentantin wahrgenommen wird von den staatlichen Einrichtungen: Schulen, Sozialverwaltung und so. Die eben bevormundet oder demütigt. Also die Soziale Arbeit ist voll da drin.

00:27:22: Regula Freuler: Also wenn man es zuspitzt, ist die Geschichte der sozialen Arbeit, ich gehe jetzt mal bis Anfang des 20. Jahrhunderts oder zumindest in der Schweiz hat es dann angefangen oder wurde sie entwickelt, ist ja geprägt genau von dem, also sehr moralisch gefärbt auch, was wir gesagt haben. Diese Mütter erziehen ihre Kinder falsch, diese Familien sind nicht fähig ihre Kinder richtig zu erziehen und darum nimmt man sie ihnen weg.

00:27:44: Peter Streckeisen: Was man in der Geschichte der Sozialen Arbeit sieht, ist, dass sich diese Erziehungsmassnahmen immer gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen gerichtet haben, die in verschiedenen Hinsichten benachteiligt waren. Man hat eigentlich Erziehungsvorstellungen aus der Oberschicht, bürgerlichen Oberschicht genommen und zum Vorbild genommen und gesagt, so solltet ihr leben. Es war so von oben herab. Und das, was heute passiert mit vielen von diesen Vorgaben der Regulierung, ist natürlich ähnlich. Es orientiert sich an den Normen oder Wertvorstellungen von Bevölkerungsgruppen, die privilegiert sind oder bessergestellt sind und an diesen werden dann alle anderen gemessen. Was sich aber verändert hat in der Geschichte der Sozialen Arbeit ist, dass sie mehr und mehr Teil der staatlichen Einrichtung geworden ist. Das ist so eine grosse Tendenz vom 20. Jahrhundert und ich denke, wenn wir heute sehen, was politisch passiert, vielleicht auch mit dem Aufstieg von diesen rechten oder rechtsautoritären Regierungen, wird es in Zukunft wichtiger sein oder umso dringender werden, dass Soziale Arbeit auch wieder sich Freiheiten verschafft gegenüber staatlichen Behörden und staatlichem Auftrag. Also in dieser Hinsicht könnte das zu einer grossen Dringlichkeit werden, wenn man schaut, wie sich staatliche Verwaltungen oder Einrichtungen oder Regierungen entwickeln jetzt.

00:29:01: Regula Freuler: Über das haben wir ja gerade in der Vorbereitung zu diesem Podcast gesprochen. Eine der grossen Herausforderungen heisst Geld. Wie wird Soziale Arbeit finanziert, wenn nicht mehr die öffentliche Hand dahintersteht oder nur noch eingeschränkt?

00:29:15: Peter Streckeisen: Auch hier: In Geschichte der Sozialen Arbeit gibt es sehr viele Beispiele aus anderen Ländern, aus anderen Zeiten, wo man sieht, wie es auch Alternativen gibt, über Community-Organisationen, Über gewerkschaftliche, kirchliche Einrichtungen. Es gibt kein Patentrezept. Das ist immer mit anderen Herausforderungen und Widersprüchen verbunden. Aber einfach mal vom Spirit her denke ich ist es auch ein Moment, oder z.B. die Diskussion über so ein Thema, es sollte ja auch ein Anlass für die Soziale Arbeit sein wieder darüber nachzudenken, in welchem Verhältnis wir zur Regierung und Staat stehen. Und wie gehen wir damit um, wenn sich staatliche Politiker vielleicht auch radikal ändern, was in den USA heute passiert oder in verschiedenen Ländern, auch in Europa. Dort verändern sich die politischen Rahmenbedingungen für Soziale Arbeit ziemlich grundlegend.

00:30:02: Regula Freuler: Ich möchte nochmals zum Buch «Zerstörungslust» von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey zurückgehen. Etwas, das mir beim Lesen dieses Buches aufgefallen ist, dass es fast ausschliesslich um Menschen geht, die politisch rechts eingestellt sind. Aber wie steht es denn eigentlich um die Linke, also gibt es eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der Linke in diesem Buch?

00:30:25: Peter Streckeisen: Also ich habe es einmal nachgeschaut, Oliver Nachtwey hat ja in seinem Diss, das ist irgendwie 15 Jahre her, über die Transformation der Sozialdemokratie geschrieben, das hat er damals «Marktsozialdemokratie» genannt und natürlich denke ich, das ist vielleicht eine Binsenwahrheit, wir verstehen nichts davon, was auf dem rechten Spektrum passiert, wenn man nicht das ganze Feld anschaut und nicht schaut, wie sich die linken Strömungen oder Organisationen verändert haben. Auch ganz konkret in den USA, Leute, die Sozialleistungen bezogen haben, haben natürlich zu der Zeit, als die demokratischen Präsidenten waren, sind Leistungen gekürzt worden, sind sie drangsaliert worden. Workfare, das ist nicht von rechts gekommen. Und das muss man alles mit in Rechnung stellen. Ich denke auch, dass die sehr wichtigen Anliegen zum Beispiel in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit oder Antirassismus häufig auf eine Art und Weise politisiert worden sind, dass es eben so von oben runter gekommen ist. Und dass man für das jetzt doch sozusagen auch ein bisschen in Rechnung zahlt. Dass viele Leute gesagt haben, ihr dort oben, ihr habt es einfach. Ihr könnt schon sagen, wir verteilen die Arbeit zwischen den Geschlechtern gleich und sind weltoffen für alle. Wenn ich an eurer Position wäre, könnte ich das auch sagen, aber bei mir ist es viel härter. Hier habe ich einen ganz anderen Ort. Ich kann mir das nicht leisten. Wenn ich das mache, stehe ich auf der Verliererseite. Und ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt zum Verstehen, wie es zu dem demokratischen Faschismus kommt. Ich glaube, die Erfahrung ist nicht nur, dass grosse Bevölkerungsgeschichten das Gefühl haben, sie sind in Stich gelassen worden das sagt man häufig, durch den Staat oder durch Politik. Ich glaube, die Erfahrung ist, dass grosse Bevölkerungsschichten sich angegriffen gefühlt haben und abgewertet und erniedrigt gefühlt haben durch gewisse Normierungen, durch gewisse Vorgaben, durch gewisse Redensweisen, wie man über sie geredet hat, auf sie hingeschaut hat. Und ich glaube, das ist viel mehr, als einfach nur im Stich gelassen werden.

00:32:14: Regula Freuler: Oder fast das Gegenteil.

00:32:15: Peter Streckeisen: In einem gewissen Sinn, ja.

00:32:17: Regula Freuler: Vielleicht hätten sie lieber, dass man sie in Ruhe lässt.

00:32:18: Peter Streckeisen: Genau, also sie einfach nicht in Ruhe gelassen werden. Und das hat es ja auch, wenn man jetzt so will, aus dem linken Spektrum kritische Analysen zu dem gegeben. Über Workfare oder Aktivierungspolitik, die auch aufzeigt haben, welches Potenzial an Ohnmacht das generiert wird. Und das ist vielleicht zu wenig zur Kenntnis genommen worden.

00:32:40: Regula Freuler: Am Ende Ihres Buches argumentieren Amlinger und Nachtwey, dass die Herausforderungen nicht nur politisch, sondern auch emotional und kulturell zu bewältigen sind. Das heisst für sie jetzt, das ist ein Vorschlag von ihnen, Gesellschaft müssen Räume schaffen, in denen die Affekte der Solidarität und der Zukunftsorientierung wieder attraktiver werden, als die Lust am Kaputtmachen und am Niederreissen. Wie stehst du zu diesem Plädoyer?

00:33:05: Peter Streckeisen: Sicher grundsätzlich gut, es bleibt etwas abstrakt. Aber wo ich sicher völlig einverstanden wäre, dass man eben auch nicht nur auf einer Ebene von Argumentation und so antworten. Die Ebene der Gefühle oder der Körperzustände ist wichtig. Ich glaube, letztlich geht es um die Entwicklung von neuen oder neu-alten Formen von Solidarität. Und zusammenleben, sich wertschätzen, gemeinsame Sachen entwerfen und ich glaube, es gibt verschiedene Bereiche, in denen wir aktiv werden können. Aber ich glaube, vieles also meine Hoffnung auf Alternative und Widerstand, ist mehr aus der Gesellschaft aus, aus der Zivilgesellschaft, Netzwerke soziale Bewegungen, Organisationen, die es gibt. Wir können auch in der Politik und auch in den staatlichen Verwaltungen finden Auseinandersetzungen statt, die wichtig sind. Aber letztlich denke ich, es muss eine Gegenbewegung aus der Gesellschaft herauskommen, die solidarisch ist, die aber gleichzeitig in der neuen Form der Solidarität auch das aufnimmt, wo es jetzt zum Teil eine Wut darauf gibt, also eine Form der Solidarität, die auch Diversität zulässt und Rücksicht nimmt auf Umweltbedingungen. Das klingt alles nach sehr viel, aber ich glaube, es muss aus der Gesellschaft herauskommen und auch aus den konkreten Lebenswelten der Leute und es kann nicht von oben herunterkommen.

00:34:20: Regula Freuler: Also mir ging ein wenig ähnlich, ich fand es auch relativ abstrakt, weil ich mir so überlegt habe, es gibt ja sehr viele Räume hier, aber die Leute laufen den Räumen davon. Ich denke jetzt, die Kirche ist ein so ein Raum, wo das ganze Kollektiv ja empfunden wird, oder politische Parteien oder andere Organisationen, die ja händeringend nach Leuten suchen. Und wie dann dieser Turnaround funktionieren sollte, damit die Leute finden, ich gehe jetzt, ich will ein Kollektiv suchen. Wie das funktioniert, das ist eine Frage, die für mich offen geblieben ist am Schluss des Buches. Hast du eine Frage, die für dich offengeblieben ist?

00:34:54: Peter Streckeisen: Ganz viele Fragen, aber die bleibt sicher offen. Ich meine, das Buch ist primär ein analytisches Buch, das die Analyse vorschlägt, die z.B. auch sagt, was man vielleicht nicht machen sollte. Sie sagen ja z.B., man sollte nicht wie Liberale denken. Was heisst das? Also ausbrechen aus dieser Idee vom Fokus auf das Individuum usw. Und ich denke, letztlich muss man es vertrauen... also ich meine, mir geht es so, wenn ich das Vertrauen an die Menschen verliere, dass sie auch in Lage sind gute Sachen zu machen und solidarisch zu sein oder so, dann wüsste ich, ich glaube niemand von uns hat eine Antwort, oder, und dort wo wir Möglichkeiten gesehen haben, solche Sachen zu fördern, und so, dann können wir das machen, das können wir auch bei uns machen, können wir auch im Unterricht machen, das kann man auch in der Sozialen Arbeit machen, und ich glaube ein wichtiger Aspekt ist schon der, auch die kritische Selbstreflexion also mit der Auseinandersetzung mit der eigenen Positionierung, die wir haben und nicht so auftreten, so belehrend oder von oben runter. Weil das ist ja anmassend. Wirklich anmassend, das bringt nichts. Und das ist genau das, wo sozusagen dann wieder das ist in Gang gesetzt, wo Trump und andere natürlich dann nutzen, dann sagen sie, ja genau, die haben wieder gesagt, ihr seid dumm, die haben wieder gesagt, ihr seid Rassisten. Also ich glaube, dort braucht es auch eine Selbstreflexion über unsere eigene Rolle in dem ganzen Zusammenhang.

00:36:13: Regula Freuler: Falls es anderen auch so gegangen ist, nämlich dass sie offene Fragen haben nach unserem Gespräch, ist das recht gut, und damit komme ich zu der Versprechung vom Anfang von unserem Gespräch zurück, nämlich, warum reden wir überhaupt über das Buch «Zerstörungslust» von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey. Der Grund ist, Oliver Nachtwey ist am 4. November Gast bei unserer Veranstaltungsreihe «Forum S» und du, Peter, bist einer der Mietorganisatoren. Ja, wer jetzt bei Forum S gerne mit unserem Gast Oliver Nachtwey diskutieren möchte, der offene Fragen hat – oder vielleicht sogar Antworten hat, das wäre noch besser.

00:36:50: Geht doch auf unsere Website oder googelt «ZHAW Soziale Arbeit demokratischer Faschismus» und dann kommt ihr auf die Anmeldeseite. Und wer auf das alles gar keine Lust hat, der kann natürlich in die Shownotes gehen und dort verlinke ich das Ganze. Ja, wir freuen uns, wenn so viele wie möglich von euch, die jetzt diesen Podcast gehört haben, am 4. November zu uns ins Toni-Areal kommen. Ich kann sagen, die Veranstaltung ist gratis und es gibt noch einen Apéro nachher. Danke vielmals für das Gespräch, lieber Peter.

00:37:19: Peter Streckeisen: Danke, Regula.

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